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    Bernhard Jaumann, Der Turm der blauen Pferde    
 
 
         
     
  LESEPROBE:  
     
 

Berchtesgadener Land, 5. Mai 1945

Jemand anderer als er selbst zu sein, hätte Ludwig Raithmaier nicht schlecht gefallen, aber ob er zum Werwolf taugte, wusste er nicht.

„Was sind eigentlich Werwölfe genau?“, fragte er. Xaver hatte ihm nur erzählt, was er im Radio gehört hatte. Dass die Werwölfe mithelfen würden, den Endsieg zu erringen. Dass sie zusammen mit den Wunderwaffen des Führers die Wende erzwingen würden. Auch wenn der Führer in heldenhaftem Kampf gefallen war, würde das deutsche Volk niemals untergehen. Es würde sich in seiner uneinnehmbaren Alpenfestung verschanzen und Widerstand leisten, bis Russen und Amerikaner sich gegenseitig abschlachteten.

Xaver starrte auf das schwarze Loch des Eisenbahntunnels hundert Meter vor ihnen und sagte: „Werwölfe sind Männer, die sich in der Nacht in reißende Wölfe verwandeln.“

Es war noch nicht Nacht, und auch wenn die Sonne schon hinter den Bergen verschwunden war, zerfloss das Tageslicht nur langsam. Ludwig schaute zu den Gipfeln auf, über denen zerfetzte Wolken Richtung Osten jagten, als hätten sie ein Ziel. Aus dem Blau der Nordhänge schimmerten abgezehrte Restschneefelder hervor. Über die schwarzen Wälder weiter unten liefen kaum merkliche Wellen dahin, nur hier in der Nähe beugten die Fichten ihre Wipfel unter dem harten Wind. An der Wetterseite hatte Moos die Stämme besetzt. Aus dem Schotter zwischen den Eisenbahnschwellen spross Unkraut.

„Werwölfe schlagen nachts hinter den feindlichen Linien zu, und tagsüber sehen sie völlig harmlos aus“, sagte Xaver.

Seit gestern befanden er und Ludwig sich hinter den feindlichen Linien. Ohne auf größeren Widerstand zu treffen, waren Amis und Franzosen in Berchtesgaden einmarschiert. Voll Verachtung hatte Xaver erzählt, dass seine Mutter den Ofen in der Stube mit den Seiten von Mein Kampf gefüttert hatte, während sein Vater ein weißes Bettlaken aus dem Fenster gehängt hatte. Da hatte Xaver seine HJ-Uniform angezogen und war trotz strikten Verbots abgehauen. Um Ludwig kümmerte sich eh keiner. Er war als Kostgänger auf dem Huber-Hof untergebracht, und wenn er nicht da war, gab es halt einen weniger, mit dem man die dünne Suppe teilen musste.

Wir sind Werwölfe“, sagte Xaver, „und wir werden das deutsche Volk bis zum Letzten verteidigen.“ Wahrscheinlich waren die Amis bereits zum Berghof des Führers auf dem Obersalzberg vorgestoßen, doch den Zug hier im Tunnel hatten sie noch nicht entdeckt. Seit Wochen stand er im Berg, geschützt vor Luftangriffen und rund um die Uhr von SS-Männern bewacht. Bis gestern. Sie waren spurlos verschwunden, als die Amis sich näherten. Nur der Zug war noch da. Acht Waggons, die – wie man munkelte – von Reichsmarschall Göring persönlich hierher befohlen worden waren. Über die Ladung wusste man nichts, doch Xaver vermutete, dass es sich um Wunderwaffen des Führers zur Verteidigung der Alpenfestung handelte. Die SS habe den Zug nicht zum Spaß vor aller Augen abgeschirmt!

„Aber die SS lässt doch die Wunderwaffen nicht einfach so zurück“, hatte Ludwig eingewandt.

„Das sind dreckige Verräter. Die gehören aufgeknüpft“, hatte Xaver gesagt und an das Werwolfmotto aus dem Radio erinnert: Hass ist unser Gebet, und Rache ist unser Feldgeschrei. Es galt, rücksichtslos durchzugreifen. Schwäche war Verrat. Der Endsieg stand unmittelbar bevor. Unbeugsamer Widerstand, eiserner Wille, Wunderwaffen, Werwölfe. Worte, die Taten werden wollten. Und dann hatte Xaver gesagt: „Wenn wir die Wunderwaffen hätten …“

Ludwig hatte genickt, weil er nicht gewusst hatte, was ein Werwolf sonst hätte tun sollen. Aus der Werkstatt von Xavers Vater hatten sie ein Brecheisen und zwei Taschenlampen mitgehen lassen, und nun hockten sie seit Stunden hier am Waldrand und beobachteten den Tunneleingang. Sie konnten fast sicher sein, dass sich niemand mehr da drinnen aufhielt. Fast sicher. Xaver richtete sich auf, doch Ludwig hielt ihn am Arm zurück. „Warte noch!“

Ludwig legte den Zeigefinger über die Lippen. Keine noch so ferne Stimme war zu hören, kein Geschützdonner, keine Gewehrsalven. Auch kein Vogel schlug an, nur der Wind ließ die Fichten rauschen. Ein an- und abschwellendes Summen, das einen verrückt machen konnte, wenn man sich darauf konzentrierte. Vielleicht war es auch gar nicht der Wind, sondern das Blut, das unerbittlich in Ludwigs Ohren pochte und ihm in einer fremden Sprache Geheimnisse zuflüsterte. Vor seinen Augen spannten unsichtbare Spinnen allmählich Zwielicht zwischen den Bäumen aus. Die Dämmerung, in der reißende Wölfe geboren wurden. Ludwig zog sich seine Joppe enger um die magere Brust.

„Los, wir schauen nach!“ Xaver griff nach dem Brecheisen, trat aus dem Schutz der Bäume heraus und stapfte parallel zum Bahngleis los. Ludwig tappte hinterher. Er war weder ein Feigling noch ein Verräter. Er zweifelte nicht am Endsieg. Dass er eine Gänsehaut hatte, lag nur an der Kälte. Oder verwandelte er sich gerade in ein anderes Wesen? Würde ihm ein Wolfsfell aus der Haut sprießen, sobald er in die Nacht des Tunnels eintauchte? Ludwig versuchte sich vorzustellen, wie sich eine solche Verwandlung anfühlte. Ein Reißen, ein Ziehen, wenn sich die Muskelstränge verdickten und die Klauen aus den Tatzen sprossen? Ein Knurren in der Kehle, und im Kopf statt Gedanken nur Blutrausch? Ludwig fragte sich, ob ein Werwolf noch wusste, dass er eigentlich ein Mensch war.

Als sie die Tunnelöffnung erreicht hatten, hörte der Wind schlagartig auf. Nur ein leicht modriger Hauch schien ihnen aus dem Stollen entgegenzuströmen. Ein Geruch wie vom Fell ertränkter junger Katzen. Auch Xaver war stehen geblieben. Er schaltete seine Taschenlampe ein und ließ den Strahl über die Rundung der Tunneldecke wandern. Ein Tropfen Wasser löste sich und fiel durch das Licht nach unten. Ludwig hörte ihn nicht aufschlagen. Er rief halblaut ins Dunkel: „Ist da wer?“

„Da ist keiner mehr, glaub mir doch!“, zischte Xaver.

Da war keiner mehr, da war nur ein Bahngleis, das im Schwarz verschwand, und aus der Decke tropfte Wasser, und darüber türmte sich ein Berg auf, der dich zermalmen und so endgültig begraben konnte, dass sie dich nicht einmal beim Jüngsten Gericht wieder ans Tageslicht brachten. Wenn es überhaupt ein Jüngstes Gericht gab. Wenn der Pfarrer nicht bloß Schmarrn erzählte. Wenn nicht alle bloß Schmarrn erzählten. Ludwig knipste seine Taschenlampe an. Der Lichtkegel strich an den Schienen entlang. Ludwig folgte Xaver mit ein paar Schritten Abstand. Ein deutscher Junge hatte keine Angst. Schwäche war Verrat. Ein Werwolf kämpfte für den Endsieg. Und wenn die ganze Welt auseinanderbrach, war es unterm Berg auch nicht schlimmer als anderswo. Fünfzig Meter weiter stand der erste Waggon. Es war ein Viehwaggon ohne Fenster. An der Seite waren mit Kreide Zahlen und Abkürzungen aufgezeichnet, deren Bedeutung Ludwig nicht verstand. Geheimcodes für die Wunderwaffen? Ludwig ahnte, dass etwas nicht stimmte. Eigentlich stimmte gar nichts. Alles, was da war, war falsch, und was richtig war, das gab es nicht.

„Keine Menschenseele, siehst du?“, sagte Xaver lauter, als nötig gewesen wäre. Er rüttelte an der Schiebetür des Waggons. Sie war verschlossen.

„Leuchte mal hierher!“ Xaver setzte das Brecheisen an, drückte, knirschte mit den Zähnen, warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Werkzeug. Ein Ächzen, ein Splittern, ein Krachen, als wäre ein Riss durch die Welt gegangen, und dann sprang die Tür auf. Das Brecheisen fiel auf den Schotter. Xaver bückte sich, hob es auf und wog es in der Hand wie der Brunnhuber in der Schule den Tatzenstock.

„Schau her!“, sagte er und grinste. „So sieht ein Werwolf aus. Jetzt wird den Amis das Lachen vergehen.“

Er zog sich hoch und kletterte in den Waggon. Ludwig folgte ihm. Der Schein der Taschenlampen wanderte über Kisten und große, aus Sperrholzplatten zusammengenagelte Transportbehälter. Im Nu hatte Xaver den ersten aufgebrochen. Unter dem Holz fand sich ein gut zwei auf anderthalb Meter messendes Ding, das in Packpapier eingewickelt war. Xaver riss einen Streifen heraus und schabte mit dem Brecheisen nach, als eine zweite Lage auftauchte. Die Papierfetzen segelten nach unten. Xaver drehte sich um und sagte: „Verdammt, das ist bloß ein Bild.“

„Wie, ein Bild?“ Ludwig kam näher.

„Ein Scheißgemälde“, zischte Xaver. Er legte seine Taschenlampe auf den Boden, richtete sie auf eine kleinere Kiste aus und machte sich wieder mit dem Brecheisen ans Werk. Ludwig blickte auf die Leinwand unter dem Loch im Packpapier. Im Schein der Lampe leuchtete ihm goldenes Gelb entgegen. Nach oben wurde es begrenzt von einer Art Regenbogen, dessen Farben in überirdischem Licht zu zerfließen schienen. Die Rundung ging in kräftige blaue Pinselstriche über. Nach rechts oben flohen weiße und rote Schatten, und aus einer mit groben Linien begrenzten Raute blickte ein Auge ins Nichts. Das war ein Pferdekopf. Da hatte jemand ein blaues Pferd gemalt.

Blau? Ludwig hatte schon einen Apfelschimmel gesehen, dessen Fell ein klein wenig bläulich schimmerte, und wenn auf einen frisch gestriegelten Rappen das Sonnenlicht in einem bestimmten Winkel einfiel, mochte man auch denken, dass sich etwas Blau ins Schwarz gemischt hatte. Aber das hier war ein ganz anderer Farbton, viel stärker, viel tiefer. Vielleicht wie der von Kornblumen? Nein, auch das traf es nicht, das Blau wirkte metallischer, geheimnisvoller und irgendwie fremd. Wie nicht von dieser Welt. (…)

 
  (Aus: Der Turm der blauen Pferde)
   
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