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Bernhard Jaumann, Hörsturz
 
 
 
         
     
  LESEPROBE:  
     
  Ruth schloß die Tür mit der Aufschrift "Künstlereingang" auf, an der sie zwei Tage zuvor mit Schmelzer und Hawliczek gesprochen hatte. Sie wollte versuchen, zur Hinterbühne vorzudringen, dorthin, wo Miriam zuletzt mit Sicherheit gesehen worden war. Von irgendwoher hörte sie das leise Summen einer Klimaanlage. Sonst war alles ruhig. Nichts zu hören außer dem Geräusch ihrer eigenen Schritte auf den Holzdielen. Es roch schwach nach kaltem Rauch. Die Tür am Ende des Vorraums führte in einen Gang, an dem rechts und links die Garderoben lagen. Keine einzige war abgesperrt. Ruth sah in jeden Garderobenschrank, gab sich der Phantasievorstellung hin, vor einem der Schminkspiegel ihre Schwester schlafend vorzufinden, versuchte zumindest heraus zu bekommen, in welcher Garderobe sich Miriam umgezogen hatte, wo der Klang ihrer Stimmübungen in der Luft hing. Hier vielleicht. Ruth war sich nicht sicher. Sie konnte nirgends persönliche Dinge Miriams entdecken. Was war eigentlich mit ihrer Kleidung passiert? Hatte sich Miriam noch umgezogen, oder hatte jemand anderer aufgeräumt? Beweisstücke für die Polizei?

Ruth folgte dem Gang ums Eck. Rechts lagen zwei weitere Garderoben, in denen sich nichts fand. Der Gang endete in einem internen Treppenhaus. Eine Toilette, eine weitere Tür geradeaus. Der Brandgeruch war stärker als zuvor. Hier mußte es zur Bühne gehen. Vorsichtig öffnete Ruth die Tür. Ein Kulissenraum. Ohne ersichtliche Ordnung gestapelte Holzrahmen verdeckten die Seitenwände. Ein leises Brummen war zu hören. Am Ende öffnete sich der Raum zur Hinterbühne, einem von Vorhängen und Pappmachèprospekten gegliederten Labyrinth, durch dessen Gänge sich Ruth auf das eintönige Summen, das von irgendeiner Maschine stammen mußte, vorarbeitete. Dann stand sie auf der Bühne, inmitten der verkohlten Reste der Zauberflötendekoration. Irgend etwas stimmte nicht. Auf den Brettern, die die Welt bedeuteten, verrieten schwarze Striemen, daß jemand das Gemisch aus Asche und Löschschaum eilig aufgewischt hatte. Im Orchestergraben lagen Stühle und Notenständer noch wild durcheinander. Dahinter der leere Zuschauerraum. In der dritten Reihe hatte Ruth gesessen, als ...


Sie wischte den Gedanken weg, versuchte, die Musik der "Zauberflöte" nicht wieder lebendig werden zu lassen und sich ganz auf die Suche nach Spuren von Miriam zu konzentrieren.


Das Brummen, das in der Luft lag, wirkte beruhigend, fast vertraut. Es erfüllte die bedrohliche Stille des verlassenen Theaterraums mit Leben, mit der Sicherheit, die die Alltagsaktivität von Menschen ausstrahlt, und sei es auch nur in Form einer von ihnen installierten Maschine. Es könnte ein zusätzlicher Ventilator sein, mit dem der Brandgeruch, der sich überall festgesetzt hatte, zerstreut werden sollte. Ruth hatte das Gefühl, daß man sich bemühte, die Dinge in Ordnung zu bringen. Dasselbe wollte sie auch, nichts anderes. Sie war im Grunde nicht allein, obwohl sie ganz allein hier eingebrochen war, obwohl niemand im Theater zu sehen war, auf dieser Bühne, auf der sie ihre Schwester zum letzten Mal gesehen hatte, bevor Miriam da nach links vor dem Feuer geflüchtet und dann verschwunden war. Das monotone Geräusch unterstützte Ruth bei ihrer Suche. Sie blickte sich um, konnte aber nirgends einen Ventilator entdecken, obwohl ...


Ein kleiner kalter Lufthauch schien Ruth plötzlich zu erfassen, ein böse zischender Windstoß, der sie frösteln ließ.

... obwohl das Licht im Zuschauerraum brannte! Und auf der Bühne. Und in den Nebenräumen der Bühne. Alle Birnen brannten, alles war taghell erleuchtet. Jemand hatte alle Lampen eingeschaltet. Jemand mußte hier gewesen sein, war vielleicht noch hier. Die Kriminalpolizei ließ nicht alle Lampen in einem von ihr versiegelten, halb ausgebrannten Opernhaus brennen!

Ruth rührte keinen Muskel, wagte nicht zu atmen. Vielleicht war sie nicht allein. Sie horchte. Ein Schlurfen von Füßen, das Knacken eines Dielenbretts, das sanfte Rauschen eines Vorhangs, an dem sich jemand entlangschob? Sie hörte nichts. Sie hörte nur das Brummen eines unsichtbaren Ventilators, ein immer gleiches Geräusch, das einen auf die Dauer verrückt machen mußte.

"Ist da wer?" fragte Ruth halblaut zu den abgefackelten Resten von Sarastros Palast hin.

Da rührte sich nichts. Da war niemand. Da hörte man niemanden leise atmen, da hörte man gar nichts. Außer diesem verfluchten Ventilator. Vielleicht hatte doch die Polizei ...? Oder eine Putzfrau? Wäre es Ruth denn lieber gewesen, wenn alles im Dunkel liegen würde? Wenn sie mit einer Kerze in der Hand durch das Labyrinth hinter der Bühne stolpern müßte? Über Balken fiele, gegen Dekorationen krachte?
"Ist jemand hier?" fragte Ruth in den Zuschauerraum.

"Hallo!" rief sie in den Bühnenhintergrund. Schrie sie. Horchte. Der unsichtbare Ventilator summte von irgendwoher. Von überall her. Ruth war sicher, daß sie nicht allein war. Daß hier irgendwo irgendwer ...

Plop.

Ruhig bleiben! Keine Panik! Es war nichts. Es war nur das Blut, das in ihren Ohren rauschte, das in ihr dröhnend den Ventilator nachäffte, das auf- und abwallte, ihr ein anderes Geräusch vorgespiegelt hatte. Ein leises Plop. Sicher war es nur ihr Trommelfell, das auf den Blutansturm reagierte. Eine Art Druckausgleich, wie wenn man einen großen Höhenunterschied zu schnell bewältigte. Ruth hatte immer zu kämpfen, wenn sie Paßstraßen fuhr. Seit ihrer Kindheit. Erst dieses Gefühl der Taubheit, und dann schluckte sie und preßte, und nichts geschah, und jedesmal dachte sie, daß ihre Ohren diesmal endgültig verschlossen blieben, daß sie ihr Leben lang wie durch Watte hören müßte. Doch irgendwann kam dieses Plop, und alles war in Ordnung.
Sicher hatte sie solch ein Plop in ihrem Ohr gehört.

Plop.

Es war nicht in ihrem Ohr. Sie hatte es wieder gehört. Es kam von außen. Es kam wie das Summen des Ventilators von außen. Ein leises, kurzes, dumpfes Geräusch, als ob ein Insekt gegen die Flügel des Ventilators geprallt und von ihnen zerschmettert worden wäre. Wie ein Wassertropfen, der im Waschbecken zerplatzte.

Ruth schlich quer über die Bühne, blieb stehen, horchte.

Sie ging zurück, tauchte zwischen den Vorhängen an der Seite der Bühne ein, blieb stehen. Der Ventilator summte hier leiser. Ruth horchte.

Plop.

Da war es wieder. Es war nicht in ihrem Ohr. Es war auch kein stimmloses Plop, es war eher ein dumpfer Ton, der klang. Unzweifelhaft klang er ein wenig. Es war eher ein ...

Plong.

Und noch einmal: Plong.

Ein dumpfer Ton, der kaum merklich nachhallte. Nachschwang. Ruth sah sich um. An der Seite der Bühne, durch eine Glasscheibe abgetrennt, befand sich das Beleuchtungsstellwerk. Neben Ruth ragten an der Wand die Stahlgerüste empor, die den Schnürboden trugen. Oben die Hydraulik des Überbühnenwagens, der ganz zurückgefahren war, dazu Seile, Leitungen, Spotleuchten, ein halb herunterhängendes Netz.

Plong.

Es klang metallen. Es klang nach einem Stein, der auf eine Metallplatte fiel, von ihr abprallte und sie nachschwingen ließ. Alles war hell, gut ausgeleuchtet. Ruth sah keine Metallplatte, keine fallenden Steine. Sie sah keinen Menschen, der eventuell einen Stein fallen lassen konnte, nicht einmal eine Ratte, die ihn irgendwo hätte herabstoßen können.

Plong, plong.

Ruths Kopf zuckte nach links. Da drüben! Das Geräusch entstand nicht in diesem Raum. Es kam aus der Wand. Es klang dumpfer als ein Stein, der auf eine Metallplatte fällt. Es klang, als ob ein Stein hinter einer Wand auf eine Metallplatte fiele. Es mußte nebenan sein. Hinter der Wand.

Da war noch eine Tür, halbversteckt. Ruth öffnete sie, dachte an nichts als an dieses Geräusch, schien gebannt von ihm wie von einem geheimnisvollen Flötenton, der jeden Menschen sicher durch Feuer und Eis führt.

Hinter der Tür war eine Putzkammer. Kübel, Besen, Schrubber, Putzmittel. Keine Menschenseele, keine Metallplatte, keine fallenden Steine.

Ruth horchte. Horchte, bis ein leises Plong ertönte. Es kam aus der Wand. Es mußte von nebenan kommen. Aus dem Raum, den Ruth gerade verlassen hatte, weil sie zu hören geglaubt hatte, daß das Geräusch aus diesem Raum hier stammte.

Es gab nur eine Erklärung. Das Geräusch entstand in der Wand. Es gab keine Steine, die in einer Wand auf eine Metallplatte fielen. Das war keine Erklärung. Ruth ging zurück.

Sie blieb stehen. Sie horchte gegen die Wand. Von fern surrte der Ventilator. Unbeirrbar. Leise. Monoton. Wirbelte irgendwo Luft um.

Kein Plong.

Das Geräusch war in unregelmäßigen Abständen aufgetreten, aber ein so langes Intervall hatte es noch nie gegben. Ruth wartete. Zählte bis 60. Zählte ein zweites Mal bis 60. Es hatte sich ausgeplongt. Ruth ging langsam die Wand ab, strich mit der Hand am rauhen Putz entlang, als ob sie die Stelle, an der das Geräusch entstanden war, erspüren wollte. Sie wich den Gerüststreben aus, suchte wieder den Kontakt zur Mauer, strich über dem Heizkörper entlang, ließ ihre Hand nach unten gleiten.

Der Heizkörper war kalt. Er war aus Metall. Er war hohl. Von ihm aus führten Rohre in die Wand, aus der das Geräusch gedrungen war. Ruth bückte sich. Sie legte ihr Ohr auf den Heizkörper, preßte es gegen das kühle Metall. Sie horchte.

Sie hörte kein Plong. Aus dem Heizkörper kam kein Plong, kein Geräusch eines irgendwo abprallenden Steins. Das tote Metall, das wärmer wurde, je mehr es sich gegen Ruths Wange preßte, das sich in ihr Ohr hineingrub, zwickte, drückte, Schmerzen verursachte, die Ruth sicher sein ließen, daß sie nicht träumte, dieses tote Metall - sang.
 
  (Aus: HÖRSTURZ, S. 171-176)  
   
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